China-Paranoia und andere Verunsicherungen der Anleger

Die gegenwärtig hohe Volatilität auf den Aktienmärkten lässt an der Rationalität der Anleger zweifeln. Aktuelle – egal ob als positiv oder negativ wahrgenommene – Nachrichten werden nicht mehr weiter hinterfragt. Die zunehmende Bedeutung des automatisierten Handels verstärkt die aus kurzfristiger Sicht getroffenen Kauf- und Verkaufsentscheide noch zusätzlich. Die Ergebnisse fundierter ökonomischer Analysen – sofern solche überhaupt noch erarbeitet werden – bleiben zumeist ausgeblendet. Eine unreflektierte Informationsflut bestimmt daher massgeblich das Geschehen an den Börsen. Für die mittel- bis längerfristige Entwicklung der Unternehmensbewertungen sind aber immer noch die fundamentalen einzel- und gesamtwirtschaftlichen Faktoren entscheidend.
Die z.Zt. an den Aktienmärkten zu beobachtende Volatilität entspricht jedoch mehrheitlich nicht der realwirtschaftlichen Lage und insbesondere auch nicht den in den Unternehmensbilanzen ausgewiesenen Fakten. Diese Feststellung gilt auch für weite Teile des Bankensektors. Erst wenn es zu einer raschen Anhebung der momentan noch niedrigen Zinsen kommen sollte, besteht die Gefahr, dass viele der Banken, die kurzfristige Gelder zu Zinsen um Null aufgenommen und zu Zinsen im Bereich zwischen ein und zwei Prozent – z.B. für die Finanzierung von Immobilien – verliehen haben, in Schwierigkeiten geraten. Dadurch könnte auch die Stabilität des Finanzsystems gefährdet werden.
Sorgen um die gesamtwirtschaftliche Lage in China sowie die – im Vergleich mit früheren Jahren – niedrigeren Rohstoffpreise haben insbesondere in den Schwellenländern die konjunkturellen Probleme weiter verstärkt und damit auch die Chancen für eine rasche Überwindung des z.Zt. schwachen Wachstums der Weltwirtschaft vermindert. Während die Weltwirtschaft aber immer noch mit positiven, wenn auch im Vergleich mit früher merklich geringeren BIP-Wachstumsraten aufwartet, ist das Welthandelsvolumen – in US-Dollar gerechnet – bereits seit 2012 rückläufig. Auch bereinigt um Preis- und Wechselkurseffekte weist das Welthandelsvolumen nur noch Wachstumsraten in der Nähe von Null auf. Das Welthandelsvolumen wächst gegenwärtig erheblich langsamer als das Welt-BIP. Noch bis 2012 nahm das Welthandelsvolumen immer etwas stärker zu als das Welt-BIP. Diese etwas überraschende Entwicklung lässt sich aber, weder mit einem geringeren Bezug von Vorleistungen der Schwellenländer, noch mit der Fähigkeit dieser Länder nun auch höherwertige Güter herstellen zu können vollständig erklären.
Viele Schwellenländer produzieren zunehmend selbst Vorleistungen. Die Exporte dieser Länder nehmen tendenziell weiter zu, das Exportwachstum vieler Industrieländer hat sich jedoch in den letzten Jahren merklich verlangsamt. Diese unterschiedlichen Entwicklungen sind die Folge vom Aufstieg einzelner Schwellenländer in den Wertschöpfungsketten durch eine Erhöhung der Fertigungstiefe. Dadurch sind diese Länder in der Lage auch höherwertige Produkte zu exportieren. Ein in der Regel in diesem Entwicklungsprozess steigendes Lohnniveau wird aber auch dazu führen, dass Vorprodukte aus anderen Schwellenländern mit noch niedrigeren Produktionskosten bezogen werden. Ein höherer Lebensstandard in einem Schwellenland eröffnet zudem den Industrieländern neue Exportchancen in Form höherwertiger Konsum- und Investitionsgüter. Der Weltwandel muss aufgrund derartiger Entwicklungen daher nicht zwangsweise langsamer wachsen. Der Grund für eine nachlassende Dynamik des Welthandels dürfte deshalb – neben den zur Beschränkung des Handels mit einzelnen Staaten ergriffenen Sanktionsmassnahmen – eher in protektionistisch motivierten Einschränkungen des Güteraustauschs und der Kapitalmobilität zu finden sein. So hat z.B. Brasilien Beschränkungen bei den Importen von Industriegütern eingeführt und einige der asiatischen Länder haben sich im Vorfeld des ASEAN-Binnenmarktes für versteckte Schutzmassnahmen („non-tariff-barriers“) zugunsten ihrer Unternehmen entschieden, um für diese das Risiko von Schocks beim Start des Binnenmarktes zu vermindern. Hinzu kommt, dass die seit einiger Zeit anhaltenden geopolitischen Risiken, die Bereitschaft von Unternehmen aus den Industrieländern zu Direktinvestitionen in Schwellenländern immer noch beeinträchtigen.
Die Entwicklung der Rohölpreise wird nicht selten als ein Argument zur Erklärung der Volatilität auf den Aktienmärkten gebraucht. Doch wie so oft, gibt es auch hier zwei Seiten zu betrachten. Aus Sicht der Nachfrager ist der seit 2014 rückläufige Rohölpreis von Vorteil, die Förderländer leiden jedoch ganz erheblich unter den gesunkenen Einnahmen und reduzieren ihre Investitionspläne und Importe entsprechend. Nach dem OPEC-Meeting im November 2014, entschied sich Saudi-Arabien dazu, seine traditionelle Rolle als Swing-Produzent aufzugeben und mit diesem Schritt zu versuchen, Anbieter ausserhalb der OPEC aus dem Markt zu drängen. Die Förderpolitik der OPEC blieb nach diesem Entscheid daher expansiv und führte zu einem Überangebot. Mit den dadurch unter Druck geratenen Rohölpreisen sollte insbesondere die Schieferölproduktion in den USA unrentabel gemacht werden. Es zeigte sich allerdings, dass die mit der „Fracking“-Technik arbeitenden Unternehmen durch eine Konzentration auf die ergiebigsten Felder und aufgrund von – auf den technischen Fortschritt bei diesen Fördertechniken zurückgehende – Kostensenkungen die Gewinnschwelle („Break-Even“-Preise) senken konnten. Erst seit Mitte 2015 ist die Rohölförderung in den USA rückläufig.
Auch ausserhalb der USA gingen die Investitionen für die Rohölförderung erheblich zurück. Nicht zuletzt wegen des Wiedereinstiegs des Iran in den Rohölmarkt ist trotzdem davon auszugehen, dass bis weit in das Jahr 2016 hinein ein Überangebot an Rohöl bestehen wird. Die Nachfrage dürfte jedoch – nicht zuletzt aufgrund des gegenwärtigen Preisniveaus für Treibstoffe und Heizöl – 2016 höher liegen als 2015, so dass es im Jahresverlauf zu einer wieder ausgeglichenen Marktbilanz und zu wieder leicht anziehenden Rohölpreisen kommen dürfte. Sollten sich die Förderländer auch noch dahingehend einigen können, nicht mehr zu versuchen, den Preisverfall durch Mengenausweitungen zu kompensieren, dann würde dies den Erholungsprozess bei den Preisnotierungen noch beschleunigen. Die aus Sicht der Nachfrager vergleichsweise günstigen Preise für Treibstoffe und Heizöl sollten dennoch noch etwas länger Bestand haben und damit auch die private Konsumnachfrage in den Industrieländern weiter stützen..
Die 2014 einsetzende Preisentwicklung führte in den Rohöl exportierenden Ländern zu Einkommensverlusten. Nicht nur Russland, Saudi-Arabien usw. leiden darunter massiv, sondern auch andere Förderländer – wie z.B. Kanada oder Norwegen – müssen erhebliche Einbussen verkraften. Zum Ausgleich fehlender Erlöse aus dem Verkauf von Rohöl mussten einzelne Staatsfonds sogar Teile ihrer Wertpapieranlagen verkaufen. An der Ende 2015 gemachten Einschätzung der realwirtschaftlichen Entwicklungen in den USA, in der EU und in der Schweiz kann jedoch festgehalten werden. Es gibt noch keine gefestigten Daten, die Revisionen erforderlich machen würden. Die seit einigen Monaten rückläufigen Frühindikatoren haben jedoch Befürchtungen über den Fortgang des Wirtschaftswachstums in China ausgelöst. Selbst ein massiver Rückgang der chinesischen Importe aufgrund eines Einbruchs der Nachfrage hätte aber nur sehr geringe Auswirkungen auf die Industrieländer insgesamt, nur einige wenige Länder – wie z.B. Japan, Australien und Deutschland – könnten davon stärker betroffen werden.
Es besteht jedoch verbreitete Unsicherheit darüber, inwieweit der von der chinesischen Regierung angestrebte Umbau der Produktion – ein Abbau von Überkapazitäten in der Industrie, insbesondere in der Schwerindustrie und im Bausektor – zugunsten neuer Wachstumsfelder in den Bereichen Dienstleistungen und „High-Tech“ sich effektiv auf die BIP-Entwicklung in China auswirken wird. Der mit diesem strukturellen Umbau zunächst einhergehende Verlust von Arbeitsplätzen wird sich als Hauptproblem in diesem von der Regierung erwünschten und fest geplanten Veränderungsprozess herauskristallisieren. Zur Vermeidung sozialer Unruhen wird es notwendig sein, auch weiterhin nicht wettbewerbsfähige staatseigene Betriebe mit Krediten am Leben zu erhalten, um das Arbeitsplatzangebot nicht drastisch einbrechen zu lassen. Wie bereits früher müssen diese Unternehmen die Rolle eines ansonsten weitgehend fehlenden Systems zur sozialen Absicherung übernehmen. Die aus europäischer und US-amerikanischer Warte immer wieder geforderte raschere Privatisierung der staatseigenen Unternehmen greift deshalb zu kurz und wird den mit dem strukturellen Umbau des Produktionssektors einhergehenden Problemen nicht gerecht. Erst ab dem Jahr 2020 wird das Erwerbspersonenpotenzial auch in China langsam abnehmen und so dieses Arbeitsplatzproblem sukzessive entschärfen.
Die wachsende Schuldenlast der Staatsunternehmen und die hohen Kreditwachstumstraten sind zwar grundsätzlich problematisch, aber aufgrund der hohen Sparquote und des geringen Schuldenstand der öffentlichen Haushalte (die Staatsschuldenquote liegt bei ca. 45 Prozent des BIP) ist nicht davon auszugehen, dass es zu einer Finanzkrise mit internationalen Auswirkungen kommen wird. Nach wie vor wird die – offiziell ausgewiesene – jährliche Wachstumsrate des realen BIP in einem Bereich zwischen 6 und 7 Prozent liegen und damit deutlich höher sein als die BIP-Wachstumsraten aller anderen der für die weltwirtschaftliche Entwicklung relevanten Volkswirtschaften. (Die seit einigen Jahren nicht mehr zweistelligen BIP-Wachstumsraten gehen eindeutig auch auf Niveaueffekte zurück, die absoluten Zunahmen des BIP sind immer noch eindrücklich.) Die Devisenreserven Chinas (ca. 3.3 Billionen US-Dollar) erlauben es der Regierung, die Nachfrage für die heimischen Unternehmen weiter in Gang zu halten und den Kapitalabflüssen entgegen zu treten.
Die traditionell enge Bindung des Yuan an den wieder stärker gewordenen US-Dollar hat China dazu gezwungen – in dem für den Referenzwechselkurs gewählten Währungskorb – den Dollar geringer zu gewichten, um den vom Dollar verursachten Aufwertungsdruck zu verringern. Dem – vor allem durch die im Ausland sichere Anlagen suchenden Kapitalexporteure ausgelösten – Abwertungsdruck wurde deshalb durch den Verkauf von einem kleinen Teil der bislang überwiegend in Staatsanleihen der USA angelegten Währungsreserven entgegengewirkt. Ob jedoch die dadurch – zumindest vorübergehend – erzielte Stabilisierung des Wechselkurses ausreichen wird, um den Yuan schon in Kürze zu einer international anerkannten Transaktions- und Reservewährung zu machen ist noch höchst ungewiss. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer zu erwartenden weiteren Öffnung des Kapitalverkehrs, Kapitalexporte – aufgrund eines mangelnden Vertrauens in die eigene Wirtschaft und Währung – zu einem erneuten und möglicherweise noch stärkeren Abwertungsdruck führen. Befürchtungen, dass die Währungsreserven nicht ausreichen werden, um absehbare Kreditverluste der chinesischen Banken aufzufangen und/oder den Wechselkurs des Yuan auf einem die internationalen Wettbewerbsfähigkeit erhaltenden Niveau zu halten, sind – zumindest aus heutiger Sicht – nicht angebracht. China weist immer noch erhebliche Leistungsbilanzüberschüsse aus und die sich ausländischen Unternehmen weiterhin bietenden Investitionsmöglichkeiten werden die Kapitalimporte nicht versiegen lassen. Die neu hinzukommenden Währungsreserven dürften jedoch sicherlich nicht mehr fast ausschliesslich in Staatsanleihen der USA angelegt, sondern in renditeträchtigeren Anlagen investiert werden.
Die chinesische Volkswirtschaft hat ihre Wachstumsmöglichkeiten noch längst nicht ausgeschöpft. Das Land hat durch den grossen Binnenmarkt nach wie vor ein enormes Nachfragepotenzial. Die individuellen Arbeitseinkommen und Vermögen sind in den letzten Jahren bereits spürbar angestiegen, die Konsumquote der privaten Haushalte ist jedoch im direkten Vergleich mit Ländern auf einem ähnlichen Entwicklungsstand deutlich geringer. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass sich das Konsumverhalten aufgrund der verbesserten Einkommens- und Vermögenssituation sukzessive ändern wird. Die hohe Sparquote der privaten Haushalte wird solche Veränderungen im Konsumverhalten ermöglichen und die – auf eine Verbesserung der Qualität von Produkten inländischer Unternehmen zielenden – Reformmassnahmen der Regierung werden zu einer Erhöhung der Nachfrage nach im Inland erzeugten Gütern mit beitragen. Die in den industriellen Zentren gestiegenen Löhne führen aber nicht nur zu Produktionsverlagerungen in andere Schwellenländer, sondern auch zu den von der Regierung erwünschten Abwanderungen von Produktionsstätten in Regionen im Westen Chinas , in denen die Löhne noch niedriger sind.
Herzlich,
Prof. em. Dr. Bernd Schips
Wirtschafts- und Finanzbeirat
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